übersetzt von Francis Nenik
Vorbemerkung
Bei meinen Recherchen zu einem später unter dem Titel »Vom Wunder der doppelten Biografieführung« veröffentlichten Essay stieß ich im Februar 2011 in den London Metropolitan Archives auf bis dato unbekanntes Material, genauer gesagt auf einen Briefwechsel, den der tschechische Lyriker Ivan Blatný in den Jahren 1962/63 mit dem englischen Dichter Nicholas Moore geführt hatte.
Da diese Dokumente bislang auf Deutsch unpubliziert sind, jedoch interessante Einblicke in die nicht selten tragikomischen Lebensumstände von Blatný und Moore geben, will ich die Gelegenheit nutzen, die Briefe an dieser Stelle in einer von mir besorgten Übersetzung wiederzugeben.
Dem Abdruck der Briefe vorangestellt sind einige Ausführungen zu den Fundumständen sowie ein paar generelle Anmerkungen zu den Briefen selbst. Hinzu kommt – im Anhang – ein kleines Namensglossar, das zum besseren Verständnis und der Einordnung der in den Briefen erwähnten Namen beitragen soll.
Zu den Fundumständen
Alle hier veröffentlichten Briefe fanden sich in einer mit Bl-1/1425 beschrifteten Archivmappe, die zu einer Sammlung von Akten gehört, welche sich mit dem London County Council Public Health Department beschäftigen und in den London Metropolitan Archives unter der Archivnummer LCC/PH/MENT verzeichnet sind.
Gegenstand dieser Sammlung ist eine Vielzahl verschiedener Dokumente zum Thema Geisteskrankheit. So finden sich u.a. Protokolle des Personals diverser psychiatrischer Pflegeanstalten im Zuständigkeitsbereich des London City Council, generelle Abhandlungen zum Thema geistige Behinderung sowie Protokolle des Exekutivkomitees der London Association for the Care of the Mentally Defective. Darüber hinaus beinhaltet die Sammlung Studien zum Verhältnis von Geschlechts- und Geisteskrankheiten, Zeitungsartikel zur Arbeit einzelner psychiatrischer Anstalten, Patientenlisten, Berichte von Heimleitern und Einzelfallakten sowohl von Schulkindern als auch von Erwachsenen mit geistiger Behinderung.
Briefe oder sonstige persönliche Dokumente fanden sich dagegen – abgesehen von den hier veröffentlichten – in dem gesamten, mehr als fünf Regalmeter umfassenden Aktenbestand nirgendwo. Es spricht somit einiges dafür, dass die Briefe von Ivan Blatný und Nicholas Moore irrtümlich in diese Sammlung gelangt sind – eine Vermutung, die durch die Tatsache gestützt wird, dass das unter der genannten Archivnummer verzeichnete Material laut interner Kategorisierung der London Metropolitan Archives nur den Zeitraum von 1938-1960 umfasst, die hier vorliegenden Briefe aber in die Jahre 1962/63 datieren. Zwar war Ivan Blatný bereits 1954 als Langzeitpatient in das im Londoner Nordosten gelegene Claybury Hospital eingewiesen worden, was eine Aufnahme in besagten Archivbestand unter Umständen rechtfertigen würde, doch existieren im Bestand dieser Sammlung außer den Briefen keine über das Jahr 1960 hinausgehenden Akten.
Zu den Briefen
Die Tatsache, dass nicht nur die Briefe von Nicholas Moore an Ivan Blatný, sondern auch die von Ivan Blatný an Nicholas Moore erhalten sind, verdankt sich dem glücklichen Umstand, dass Blatný Kopien seiner Briefe in ein in der Mappe befindliches Notizbuch übertragen hat. Die Möglichkeit, dass es sich bei diesen Kopien um bloße Entwürfe handelt, scheint aufgrund der Tatsache, dass sich in den Niederschriften keinerlei Durchstreichungen o.ä. finden, als wenig wahrscheinlich. Ob es überhaupt solche Entwürfe gab oder Blatný seine Briefe direkt zu Papier brachte, lässt sich mit letzter Sicherheit nicht sagen. Entsprechende Funde wurden jedenfalls bisher nicht gemacht. Nichtsdestotrotz zeigt der Brief vom 16. März 1963, dass Blatný zumindest diesen einen in mehreren Etappen abgefasst hat.
Dass die in dem Notizbuch verzeichneten Briefe nicht nur geschrieben, sondern auch abgeschickt wurden, steht ebenfalls außer Frage, da Nicholas Moore durchgängig auf Blatnýs Ausführungen Bezug nimmt.
Die hier publizierten Briefe Ivan Blatnýs geben ausnahmslos die im Notizbuch enthaltenen Versionen wieder. Inwiefern diese mit den verschickten Briefen übereinstimmen, kann nur durch einen Vergleich mit möglicherweise im Nachlass von Nicholas Moore vorhandenen Briefen herausgefunden werden. Selbigen einzusehen hatte ich leider bisher noch nicht die Gelegenheit. Was dagegen gesagt werden kann, ist, dass Blatný seine Briefe an Moore in englischer Sprache verfasst hat – ein Umstand, der nicht nur in der Muttersprache ihres Adressaten begründet sein dürfte, sondern auch in der Tatsache, dass Blatný zum damaligen Zeitpunkt bereits fünfzehn Jahre in Großbritannien weilte und seine Gedichte ebenfalls auf Englisch schrieb, auch wenn er nach wie vor Gedanken auf Tschechisch, Deutsch oder Französisch zu Papier brachte.
In seinen Briefen an Moore findet sich davon aber nichts – sieht man einmal von der Datumsangabe und den auf Tschechisch notierten Buchtiteln in Blatnýs Brief vom 1. Mai 1963 ab –, gleichwohl in anderen Einträgen aus besagtem Notizbuch sehr wohl Spuren von Blatnýs sprachlichem Mikrokosmos zu finden sind. Ungeachtet dessen beinhalten sowohl die Briefe Ivan Blatnýs als auch die von Nicholas Moore neben allen Besonderheiten hier und da kleinere orthografische Mängel. Offensichtliche Rechtschreibfehler wurden deshalb stillschweigend korrigiert, Eigenheiten in den Schreibweisen und der Zeichensetzung jedoch beibehalten.
Abschließend noch einige Worte zum Notizbuch selbst. Es umfasst insgesamt 164 unpaginierte Seiten, ist außen in schlichtem Schwarz gehalten und innen von der ersten bis zur letzten Seite mit der großen, nur wenige Worte auf eine Zeile setzenden Schrift Blatnýs beschrieben. Neben den genannten Briefen finden sich darin vor allem kleinere Alltagsbeobachtungen, die mitunter ins Poetische übergehen, gleichwohl wirkliche Gedichte die Ausnahme bilden. (Insofern eine solche Unterscheidung im Falle Blatnýs überhaupt gemacht werden kann.) Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Zitaten verschiedener Schriftsteller sowie – vor allem auf den ersten Seiten und am Ende des Buches – Reflexionen über das Claybury Hospital, in dem Blatný zu diesem Zeitpunkt lebte. Der durch Datumsangaben gesicherte Zeitraum des Notizbuches erstreckt sich vom 06. Dezember 1962 (Seite 2) bis zum 15. Mai 1963 (Seite 159).
Was schließlich die Briefe Nicholas Moores betrifft, so fanden sie sich allesamt am Ende des besagten Notizbuches und waren – bis auf einen – zurück in ihre Umschläge gesteckt. Die Ausnahme bildet Moores Brief vom 26. April 1963, den dieser infolge seines Besuchs einer Reihe von Oxforder Bibliotheken an Blatný schrieb, dazu jedoch kein gewöhnliches Briefpapier, sondern die unbedruckte Rückseite eines Informationszettels der Taylorian Library verwendete, ihn zusammenfaltete, die Ränder verklebte und das briefähnliche Gebilde an Blatný sandte. Für Moore, der dutzende, wenn nicht gar hunderte solcher von ihm »pomenvylopes« genannten und mit Zitaten, Gedichten, Spottversen oder sonstigen Texten versehene Briefe schrieb, stellte ein solches Vorgehen eher die Regel denn die Ausnahme dar. Für Ivan Blatný dagegen dürfte es ein höchst ungewöhnliches Erlebnis gewesen sein, einen Brief zu bekommen, auf dessen Außenseite nicht nur sein eigener Name und die Adresse einer psychiatrischen Klinik standen, sondern auch die komplette Benutzerordnung einer Oxforder Bibliothek abgedruckt war.
Ivan Blatný an Nicholas Moore
Claybury Hospital, Woodford Bridge, Essex
10. Dezember 1962
Sehr geehrter Herr,
bitte verzeihen Sie diesen Brief. Sie kennen mich nicht, und ich weiß nichts über Sie. Wir sind uns nie begegnet. Aber man hat mir gesagt, wir führten ähnliche Leben. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich weiß nicht einmal, ob es so etwas gibt. Aber Britannien ist groß. Und warum nicht eine Nachricht aus einem tönernen Grab schreiben und sich vorstellen, wie sie übers ausgerollte Land weht. Doktor Martin hat mir ein Magazin versprochen, wenn ich Ihnen schreibe. Ich nehme an, er liest diesen Brief, bevor Sie ihn bekommen. Deshalb höre ich jetzt auf.
Ivan Blatný
Nicholas Moore an Ivan Blatný
89 Oakdene Road, St. Mary Cray, Kent
14. Dezember 1962
Verehrter Mr. Blatný,
ich kenne weder Sie noch Mr. Martin und wenn er Ihnen ein Magazin versprochen hat, so wird er seine Gründe dafür haben. Ich für meinen Teil habe dazu keine Meinung.
Was dagegen Ihre Person betrifft, so kann ich nur spekulieren. Sie wohnen im Claybury Hospital oder arbeiten da. Dem kleinen Ausschnitt aus der Times, der sich beim Öffnen Ihres Briefes über die Tischkante gestürzt hat, entnehme ich, dass Sie am 12. Mai 1948 im »Allied Circle« in London einen Vortrag über die tschechoslowakische Sache gehalten haben. (Der über Ihrer Vortragsankündigung stehenden Wettervorhersage zufolge muss es ein Tag von geradezu archetypisch-englischer Qualität gewesen sein. Frühmorgens Nebel, der sich im Laufe des Vormittags langsam auflöst, dazu wechselnder Wind, meist von Norden her kommend, gegen Nachmittag möglicherweise Gewitter und später Regen). Aber wie dem auch sei, wir wollen nicht über das Wetter reden. Ihrem Brief lag ein von mir verfasstes Gedicht bei und es hat den Eindruck, als glaubten Sie (oder Mr. Martin), ich sei ein Poet. Nun, ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, denn ich bin keiner. Das heißt, nicht mehr. Und falls doch, so bin ich es nur noch auf meine eigene Art und Weise.
Sollten Sie mir also das Gedicht geschickt haben, Mr. Blatný, so tut es mir Leid. Sollte dagegen Mr. Martin derjenige gewesen sein, der es aus dem Times Literary Supplement geschnitten und Ihrem Brief nachträglich beigefügt hat, so bestellen Sie ihm – falls er es in diesem Moment nicht gerade selbst schon tut – bitte meine besten Grüße und sagen Sie, dass Nicholas Moore vor dem Grab seines Dichter-Ichs steht und wie ein Verrückter lacht. Ich nehme an, es war diese Zeile, die den Doktor einer psychiatrischen Anstalt dazu bewogen hat, Derartiges in die Wege zu leiten. Die Logik aber steht fest in meinem Kopf und mein Wille folgt ihr darin. Das Schädelinnere ist nicht verrückt.
Hochachtungsvoll,
Nicholas Moore
Nicholas Moore an Ivan Blatný
89 Oakdene Road, St. Mary Cray, Kent
30. Dezember 1962
Mr. Blatný, ich weiß nicht, ob Sie meinen Brief bereits erhalten haben und ob Sie mir noch einmal schreiben oder nicht, aber ich habe soeben erfahren, dass ein Poet, dessen Name Ihnen wahrscheinlich ebenso wenig sagt wie mir der Ihre, vor Kurzem verstorben ist. Sein Name war Vincent Swart – und ich will Ihnen von ihm erzählen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine an Sie gerichteten Worte sind keine Replik, sondern eine mit dem Hauch des Zufalls versehene Grundlosigkeit, der ich nachzugeben gedenke. Alles, was ich mir davon verspreche, ist, in Ihnen einen Leser zu finden. Und mit Mr. Martin vielleicht sogar zwei.
Vincent Swart ist am 15. Dezember gestorben und es ist unwahrscheinlich, dass er selbst Notiz davon nahm. Er war einundfünfzig, krank, verarmt und – wie ich fürchte – betrunken. Soweit ich mich erinnere, waren seine Füße zwei große Klumpen Fleisch, doch sein Verstand war so scharf, dass seine Zunge zeitlebens spitz blieb, mochte der Alkohol auch noch so viele Gordische Knoten in sie schlingen.
Nun, um kein falsches Bild aufkommen zu lassen, ich hatte keine besondere Beziehung zu ihm und Gott allein weiß, was er in den letzten Jahren getrieben hat. Er war ein unsteter Geselle und das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass er seinen Geist zeitlebens in den Dienst der revolutionären Sache gestellt und nebenbei erfolglos Hühner gezüchtet hat. (Wahrscheinlich ähnlich erfolglos wie ich Blumen.) Swart war südafrikanischer Anarchist und englischer Poet in einem. Einer, der England 1940 verlassen musste, weil er seinen Papieren nach in ein nicht-belagertes Land gehörte. Dabei war sein eigenes Land längst okkupiert, nur dass die Belagerung eine innere war. Ich weiß nicht, ob er daran zu Grunde gegangen ist. Aber ich weiß, dass Swart in seinem Inneren einen Fluchtraum hatte, einen Luftschutzbunker aus Papier, auch wenn seine Wände mindestens so sehr mit Alkohol getränkt waren wie mit Tinte.
Ich hatte 1940 im »Seven« eines seiner Gedichte publiziert und später, ich glaube es war 1945, haben Douglas Newton und ich das mit einem weiteren seiner Werke getan. Danach aber verliert sich für mich seine Spur, auch wenn Swart Anfang der 50er noch einmal für ein paar Jahre in London gewesen sein soll. Allein, zu diesem Zeitpunkt wohnte ich bereits in Kent und lebte von meinen Erinnerungen und das einzige, was ich noch von ihm weiß (woher, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall aber wusste ich es, bevor ich in der Zeitung den achtzeiligen Nekrolog auf ihn las), ist, dass er in den 30er Jahren in Südafrika Teil einer Künstlergruppe war, die sich »Das Einhorn« nannte. Wenn ich mich recht erinnere, hatten Swart und ein paar seiner jüdischen Künstler-Freunde damals einen Narren an der Idee einer cafésüchtigen Bohème gefressen und waren kurz davor, in Johannesburg ein entsprechendes Etablissement samt zugehöriger Zeitschrift zu gründen. Dafür brauchten sie natürlich Geld, welches sie sich von Lady Oppenheimer zu holen gedachten, die ein paar von den Diamanten ihres Mannes in echte Kunstwerke verwandeln wollte. Jedenfalls ließ Lady Oppenheimer den Rolls Royce kommen, um Swart und die restlichen »Einhörner« abzuholen. Ich glaube, es war Lippy Lipshitz, der beim Einsteigen eine der Scheiben des Wagens mit einer großen Holzskulptur zertrümmerte, die er als Geschenk für die Gastgeberin vorgesehen hatte. Lady Oppenheimer war trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) von der Zeitschriften- und Kaffeehaus-Idee angetan und erklärte sich bereit, 500 Pfund zu geben, und das, obwohl ihr die »Einhörner« nicht nur die Autoscheibe zertrümmert, sondern beim Essen auch noch den Teppich mit Rotwein versaut hatten. Vor lauter Begeisterung schrieb einer von ihnen (ich glaube, es war wieder Lipshitz) Lady Oppenheimer noch am selben Abend einen Brief und fragte, ob sie ihm nicht Modell stehen wolle, woraufhin er ein paar Tage später eine frostige Abfuhr erhielt und sich keiner von der Gruppe mehr traute, das versprochene Geld abzuholen. Und das war das Ende der Künstler-Kaffeehaus-Kultur in Johannesburg.
Warum ich das schreibe? Vielleicht um mir und Ihnen, Mr. Blatný (bzw. Ihnen, Mr. Martin) vor Augen zu führen, dass die Ähnlichkeit zweier Leben eine Unmöglichkeit ist und dass – selbst wenn so etwas möglich wäre (und ich betone: wäre!) – eine solche Ähnlichkeit nie auf ähnlichen Voraussetzungen und Richtungsweisungen beruhen würde. (Wie viele haben je Lady Oppenheimers Teppich mit Rotwein versaut? Wie viele das Fenster eines Rolls Royce mit einer großen Holzstatue zertrümmert und der Besitzerin des Wagens anschließend schlüpfrige Briefe geschrieben? Und worin, lieber Mr. Blatný, sollten sich unsere Leben überhaupt ähneln? (Falls Mr. Martin diese Frage beantworten möchte, so sei es ihm freigestellt.))
Ich will Sie nicht abschrecken, Mr. Blatný, aber für den Fall eines Briefwechsels sollten wir die Sache auf andere Füße stellen. Erzählen Sie mir einfach, wie das Leben in Claybury ist und was Sie dahin verschlagen hat. Es ist gewiss nicht üblich, einem Dichter in einer Anstalt zu schreiben. Normalerweise sitzen beide darin.
Hochachtungsvoll,
Nicholas Moore
Ivan Blatný an Nicholas Moore
(Blatnýs Antwort auf den ersten Brief von Moore)
Claybury Hospital
Woodford Bridge
30. Dezember 1962
Mr. Martin hat mich gebeten, Ihnen noch einmal zu schreiben. Ich bin mir inzwischen sicher, dass er meine Briefe liest.
Es wäre schön, wenn wir über das Wetter reden könnten. Es gibt in England normalerweise nicht so viel davon wie in Brno, aber jetzt ist es anders, denn es schneit seit vier Tagen und alle, die Engländer sind oder sich wie welche fühlen, gehen raus und messen den Schnee. Die Männer hier haben inzwischen eine Sportart daraus gemacht und es gibt einen ersten Wettbewerb zwischen ihnen. Sie haben die Rundhäuschen auf der Wiese vor unserem Block unter sich aufgeteilt und messen die Höhe des Schnees auf dem Dach. William Milhodian ist bereits heruntergefallen und hat die Schneehöhe unter sich auf zwei Inches gebracht. Auf den Dächern sind es dagegen schon sechzehn und morgen werden es noch mehr sein. Welches Haus gewinnt, weiß ich nicht, da ich keines habe und das Wetter dem Wetten vorziehe.
Das mit dem Poeten tut mir Leid. Aber ich bin auch keiner mehr. Nicht mal mehr auf meine eigene Art. Ich sitze hier und schaue den Männern beim Schneemessen zu und meine Hand wird kalt und friert ab.
Ivan Blatný
Nicholas Moore an Ivan Blatný
89 Oakdene Road, St. Mary Cray, Kent
8. Januar 1963
Mr. Blatný, Sie mögen kein Poet sein, aber es ist allemal besser, Ihren Worten zu folgen, als sich die Augen am TLS zu verderben. Die Frontseite der Ausgabe vom 4. Januar ziert eine Zeichnung der Radcliffe Camera, ebenjener Bibliothek in Oxford, deren Bau der Bücherverächter John Radcliffe mit einem hübschen Sümmchen finanziert hat. Wundern Sie sich also bitte nicht, wenn in England Männer auf die Dächer von Rundhäusern klettern, um die Schneehöhe zu messen. (Nebenbei bemerkt ist die RadCam ebenfalls ein Rundhäuschen und sollte je ein Literaturkritiker auf die Idee kommen, die Schneehöhe in 90 Fuß Höhe messen zu wollen, so bin ich gern bereit, die Werte vom Boden aus zu notieren.)
10. Januar
Ich hatte diesen Brief bereits in den Umschlag gesteckt und war kurz davor, ihn in die faltigen Hände der Royal Mail zu legen, als ich – Sie mögen mein etwas monoton anmutendes Leseverhalten entschuldigen – gestern Abend im TLS auf einen Artikel stieß, der mich recht ratlos zurückließ, so sehr, dass ich noch immer hier sitze. Ich schreibe Ihnen, weil ich glaube hoffe, dass Sie mir weiterhelfen können – und weil ich annehme, dass eine Antwort von Ihnen eine Möglichkeit wäre, mir ein wenig von Ihrer Geschichte zu erschließen. (Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, mich über Sie zu informieren. Alles, was ich weiß, ist, dass sie offenbar Tscheche sind, in Claybury wohnen und – im Gegensatz zu mir – etwas von Politik verstehen, zumindest genug, um Vorträge darüber zu halten.)
Mr. Blatný, die Sache, die mich an diesen von der englischen Sonne ausgebleichten Sessel fesselt, ist folgende: Wie ich gestern Abend las, hielt die Kommunistische Partei der Sowjetunion vor fünfzehn Monaten ihren 22. Kongress ab. Normalerweise interessieren mich derartige Veranstaltungen nicht und – wenn überhaupt – so stelle ich sie mir als eine symmetrische Anordnung menschlicher Körper in Beton vor, grau und mit künstlichen Blumen. Doch wie dem auch sei, als ich besagten Bericht las, erfuhr ich, dass zwei russische Schriftsteller – Alexander Tvardovsky und Nikolai Gribachov (deren Namen ich nie zuvor gehört hatte) – probeweise zu Mitgliedern des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei ernannt wurden, derweil ein anderer, mir ebenfalls vollkommen unbekannter Autor namens Mikhail Sholokhov seine Probezeit offenbar bestanden hat und nun ständiges Mitglied des Zentralkomitees ist. Nun, das allein wäre es nicht wert, einen bereits zugeklebten Brief noch einmal aufzureißen, doch las ich kurz darauf, dass Mr. Tvardovsky und Mr. Gribachov auf dem Kongress sprachen und dass Mr. Tvardovsky – der laut Aussage des Artikelschreibers Herausgeber der Novy Mir (Neue Welt?) ist, der »besten und mutigsten aller sowjetischen Literaturzeitschriften« – für seine Rede »stürmischen, lang anhaltenden Applaus« erhielt, derweil Mr. Gribachov, der der monatlich in sechzehn Sprachen erscheinenden Zeitschrift Soviet Union vorsteht, lediglich »lang anhaltenden Applaus« bekam – und dass dieser Unterschied im Applaus über ihr Schicksal entscheiden kann. (Und dabei besteht der Unterschied wahrscheinlich noch nicht einmal im Applaus selbst, sondern allein in den Worten, mit deren Hilfe er durch den Beton nach außen dringt, um sich in Köpfen einzunisten, die – so stelle zumindest ich es mir vor – eines Tages den Tod dieser Männer nur noch zu benicken brauchen, nachdem ihn ein anderer abgenickt hat.)
Es gab noch zwei weitere Redner, einen gewissen Vsevolod Kochetov, der nicht nur der Herausgeber des Oktyabr, sondern auch einer der Hauptgegner einer liberaleren Kulturpolitik ist und nichts weiter als »Applaus« bekam, und den bereits erwähnten Mr. Sholokhov, der nach Meinung des Reporters auf keiner Seite des Kulturkampfes steht und »stürmischen, sehr lang anhaltenden Applaus« erhielt.
Mr. Blatný, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber könnte man (mit einem gewissen Maß an Maßlosigkeit) nicht auch sagen, dass »Applaus« zwei Inches Schneehöhe sind, »lang anhaltender Applaus« ungefähr acht, »stürmischer, lang anhaltender Applaus« zwölf und »stürmischer, sehr lang anhaltender Applaus« sechzehn? Könnte man das nicht sagen, Mr. Blatný?
Ergebenst,
Nicholas Moore
Ich lege Ihnen den Ausschnitt einer vom Verlag geschalteten Webeanzeige für mein erstes und, wie ich hoffe, einziges Buch über Gartenbaukunst bei. Es handelt von der Hohen Bartschwertlilie und ist, wie Sie sehen, bereits vor sechs sieben Jahren erschienen. Sie mögen es, abseits des von wem auch immer ausgeschnittenen Gedichtes, als Beweis dafür nehmen, dass ich wirklich existiere und Mr. Martin Ihnen keinen Bären aufbindet. Und nebenbei bemerkt: Falls besagter Mr. Martin über ein wenig Geld verfügt, so versuchen Sie ihn bitte davon zu überzeugen, dass er das Buch kauft. Im Gegensatz zu Lyrik haben Bücher über Bartschwertlilien ein Verfallsdatum – und ich habe noch sehr viele davon hier. Es könnte sein, dass sie eines Tages das Gebirge aus Papier, das mich umgibt, zum Einsturz bringen.
Es dankt,
Nicholas Moore
PS: Ich fürchte, der viele Schnee tut meinen Blumen nicht gut. Ihre Lebensdauer ist jetzt noch kürzer als die meiner Gedichte. Sie sterben noch vor dem Papier.
Ivan Blatný an Nicholas Moore
16. März 1963
Mr. Martin schweigt und ich schweige auch. Aber er weiß nicht, warum ich es tue. Und wenn, dann nur, weil er meine Briefe liest.
Was kann ich noch sagen?
Es stimmt, ich bin Tscheche, aber mein Schicksal heißt England. Ich habe mich darin eingenistet wie die Amsel hinter Pustviks Grab auf dem Friedhof in Komárov. Hier, in Claybury, wo wir die Flure vierzehn Fuß breit polieren.
Wenn es draußen kalt ist, sitzen wir darin in langen Reihen und ich blase Zigarettenrauch in die Luft und sehe dabei zu, wie er zu meinen Füßen durchs Meer weht. Wir polieren den Boden immer selbst und wenn wir es gut machen, dann sieht er aus wie Wasser. Und wie Himmel. Und ist dennoch Erde. Englische Erde, Mr. Moore, nicht tschechische.
Mr. Martin sagt, ich solle sagen, ich wüsste nichts über die Russen zu sagen.
Ich habe ihm gesagt, ich wüsste nichts über die Russen zu sagen, aber er hat gesagt, schreiben Sie’s auf.
Ich weiß nichts über die Russen zu sagen, Mr. Moore.
Nichts, was die Russen nicht selbst schon wüssten.
Fragen Sie mich etwas über die Franzosen, über Céline, Simenon oder Baudelaire. Baudelaire, den mir vor vielen Jahren eine Dame nach Claybury brachte.
Wir saßen in einem kleinen Zimmer und die Männer onanierten draußen vorm Fenster und sie gab mir die »Blumen des Bösen« und kehrte nie mehr zurück.
Englische Frauen haben große Körper, Mr. Moore, viel größere als tschechische Frauen. Aber mir gefällt das. Und sollte ich je die Chance bekommen, eine zu berühren, so werde ich sie nutzen.
Mr. Martin hat mir gerade ein Magazin gebracht und gesagt, ich solle den Brief abschicken. Er hat offenbar nichts mehr zu lesen. (Aber das habe ich ihm natürlich nicht gesagt.)
Er hat mir nichts von Ihrem Buch erzählt, Mr. Moore, aber lassen wir ihn noch ein wenig warten.
Mr. Moore, ich habe in Tschechien nie künstliche Blumen gesehen. Aber ich war auch niemals in Moskau. Ich weiß nur, wie die Samen zu Hause in Brno in den Blechbüchsen raschelten. Es gab eine Zeit, da konnte ich eine Blume an ihrem Klang erkennen.
Mr. Martin war gerade noch einmal hier. Er sagt, wir bekommen gemischte Räume, und meine Aufregung ist groß. Ich werde den Brief abschicken. Während er ihn liest, werde ich mich mit einer Frau vergnügen.
Es gibt nur noch eine Sache zu sagen: Die Russen, Mr. Moore, glauben nicht an den Tod. Weder an meinen noch an den ihren. Die Russen bringen ihn. Genau wie die Deutschen Jiří den Tod gebracht haben, an seinem Geburtstag, dem zweiundzwanzigsten. Sie bringen allen den Tod, die die Narrenschuhe gegen Stiefel eingetauscht haben.
Klatschen
auf das Pflaster einer Straße mit dem Kopf.
Klatschen
auf einem Kongress einen Menschen ins Grab.
Der Schnee ist getaut. Ivan Blatný: 1 Inch.
Nicholas Moore an Ivan Blatný
89 Oakdene Road,
St. Mary Cray, Kent
28. März 1963
Mr. Blatný, ich muss gestehen, meine Narrenschuhe nicht getragen zu haben, als ich gestern um Punkt 10:32 Uhr aus dem Zug stieg und meine Füße ohne zu zögern Oxforder Boden berührten. Für einen Mann, der den Großteil seines Lebens in Cambridge verbracht hat, ist ein solches Versäumnis im Grunde ein Verbrechen, zumindest aber eine verpasste Chance, doch will ich zur Rettung meiner Ehre sagen, dass ich ebenso wenig Stiefel trug. Ich habe mich in einfachen Lederschuhen in Radcliffs Camera geschleift und sollte Gott so gnädig gewesen sein, ein oder zwei Kritiker bei ihrem Tagwerk in den schwindelerregenden Höhen der Literatur abstürzen zu lassen, so hatte man sie bereits vom Rasen geräumt, als ich kam.
Das Innere der Radder war wie üblich erfüllt mit Gelahrtheit und kanonischer Streberei, doch lag das von mir bestellte Buch schon bereit, und nachdem einer dieser pergamentfarbenen Oxforder Bibliothekare tatsächlich so freundlich war, es mir zu geben, stieg ich umgehend hinab in Aclands allein seligmachenden Tunnel, blätterte mich gen Norden in Richtung Bodleian und las das Buch auf dem Weg. Das heißt, wirklich gelesen habe ich es nicht, denn besagtes Werk ist der zweite Band eines Lexikons, welches sich »Slovník soudobých českých spisovatelů. Krásné písemnictví v letech 1918-45« nennt, und ich spreche nun mal kein Tschechisch.
Allein, auf S. 967 steht Ihr Name – und dahinter »lyrická poesie«.
Nun, ich wage nicht zu entscheiden, ob anderthalb Zeilen in einem Lexikon einen Menschen zu einem Dichter machen, auch wenn die beiden Worte zumindest ihrer bloßen Aussage nach kaum eine andere Deutung zulassen. Aber wie dem auch sei, unter englischer Erde durch ein böhmisches Dorf gezogen zu sein hat mir manches klarer gemacht. Und dass Sie mir mitteilten, sie hätten aufgehört, ein Dichter zu sein, besagt doch nur, dass Sie einst einer waren.
Indes, ob Sie noch immer einer sind, darüber kann und will ich nicht urteilen, doch glaube ich auch nicht, dass dafür ein anderes Maß als die eigene Person existiert. Ich fürchte also, ich muss mich ein wenig korrigieren, oder sagen wir: mich besser erklären, denn zu behaupten, ich sei Dichter nur noch auf meine eigene Art und Weise, öffnet einer falschen Bescheidenheit Tür und Tor, schließlich ist es in Wahrheit die einzige Möglichkeit, der dichterischen Sache Ausdruck zu verleihen. Denn welch andere Art als seine eigene könnte ein Dichter schon haben? Und auf welch andere Weise könnte er sich ausdrücken? Kurzum, ich streiche das »nur« und das »noch« – und würde gern erfahren, warum Sie das »lyricka poesie« hinter Ihrem Namen gestrichen haben.
Es dankt,
Nicholas Moore
Ivan Blatný an Nicholas Moore
19. April 1963
Ich habe Mr. Martin seit zwei Wochen nicht gesehen. Man hat mir gesagt, er sei verreist, doch nicht wohin, aber ich bin mir sicher, dass er in Oxford weilt und die verächtliche Bibliothek nach Spuren meiner Vergangenheit durchsucht. Ich würde gern die Schwestern fragen, um mehr zu erfahren, aber sie haben sich in ihrem fünftürigen Häuschen verbarrikadiert und so gehe ich den Küchenfrauen zur Hand und schäle Kartoffeln und erfahre alles aus ihrem Leben. Und doch fürchte ich, dass am Ende alle enttäuscht sein werden. Das heißt, alle außer mir, denn was immer auch Mr. Martin mitbringt, es wird in englischen Ohren griechisch klingen. Was er ausgräbt, ist nur ein Fragment, ein Stück aus einer neueren Tragödie, das Zeichen für den kommenden Ostrakismos. Claybury aber ist mein Asyl. Hier ritzen sie meinen Namen nicht in den Grund und wenn, so werde ich den Boden so lange polieren, bis die englische Erde die tschechische Vokabel wieder verschluckt.
Ivan Blatný
Nicholas Moore an Ivan Blatný
26. April 1963
Mr. Blatný, ich habe Radcliffs ganze verdammte Camera durchwühlt und mich danach in meinen zerschlissenen Schuhen eine halbe Meile durchs Oxfords Monumentalbauviertel geschleppt, um auch gleich noch der Slavonic und – wie passend! – Modern Greek Collection der Taylorian Library einen Besuch abzustatten, und alles, was ich über Sie finden konnte, waren anderthalb Zeilen in dieser unaussprechlichen tschechischen Enzyklopädie, irgendwo zwischen zwei Männern, die sich Josef Biskup und Pavel Bojar nennen, was auch schon alles ist, was ich über die beiden weiß.
Worin also sollten unsere Gemeinsamkeiten bestehen, Mr. Blatný? Und warum um alles in der Welt glaubt jemand, wir führten ähnliche Leben?
(Falls Mr. Martin wieder aufgetaucht ist, kann er ja die Fragen beantworten. Ich schlage vor, er bleibt gleich beim Griechischen, spielt den Plutarch und schreibt eine Parallelbiografie.)
Ergebenst,
Nicholas Moore
PS: Ich habe ein Foto von Ihnen im Anhang des unaussprechlichen Buches gefunden. Sie schauen ein wenig traurig, wie mir scheint. Aber wie dem auch sei, der Index sagt mir, dass Sie und Ihr Werk eigentlich auf S. 80 verzeichnet sind, nur fürchte ich, dass damit der erste Band gemeint ist, und der ist hier nirgendwo zu bekommen.
Ivan Blatný an Nicholas Moore
1. Mai 1963: Svátek práce
Internationaler Arbeitertag
May Day / Mayday
1919: geboren in Brno
1938: Druhá hra na povídku – zusammen mit Jiří Orten
1938 (oder 1939?): Hra na povídku – auch zusammen mit Jiři
1940: Paní Jitřenka
1941: Melancholické procházky
1945: Tento večer
1946: Na kopané
1947: Hledání přítomného času
1947: Jedna, dvě, tři, čtyři, pět
Nicholas Moore an Ivan Blatný
5. Mai 1963
Haben Sie das geschrieben, Mr. Blatný?
Ivan Blatný an Nicholas Moore
15. Mai 1963
Ja.
PS: Mr. Martin kann kein Tschechisch …
Nicholas Moore an Ivan Blatný
19. Mai 1963
1918: geboren in Cambridge
1938-1940: »Seven« – Literaturzeitschrift, zusammen mit J. Goodland
1941: A Wish in Season / The Island and the Cattle / A Book for Priscilla / Buzzing Around with a Bee
1942: The Cabaret, the Dancer, the Gentlemen
1944: The Glass Tower / Thirty-Five Anonymous Odes
1945: The War of the Little Jersey Cows – als »Guy Kelly«
1945: The Anonymous Elegies and other poems – anonym
1950: Recollections of the Gala. Selected Poems 1943-48
Das war ich, Nicholas Moore.
PS: Ich schlage vor, wir beenden damit unsere Vorstellungsrunde und schweigen offiziell weiter.
Nicholas Moore an Ivan Blatný
1. Juni 1963
Ich fürchte, mich wieder mal ungeschickt ausgedrückt zu haben. Was ich mit meinem letzten Brief sagen wollte, ist, schreiben Sie mir, Mr. Blatný, schreiben Sie mir nur!
PS: Ich bin gerade dabei, ein wenig Tschechisch zu lernen. Ich habe es sogar schon geschafft, den Titel eines Ihrer Bücher zu übersetzen. Es heißt »Eins, zwei, drei, vier, fünf.« Und heute Morgen fiel mir dann das hier ein:
Fünf Worte ergeben einen Satz.
Vier Worte ergeben vier
Drei ergeben drei
Zwei zwei
Eins?
Ein Wort ergibt das andere.
Nachtrag
Am 4. Juni 1963 wird Ivan Blatný von Claybury ins »House of Hope« nach Ipswich verlegt. 1977 kommt er ins »Bixley Ward-Warren House« des St. Clement’s Hospital in Ipswich und 1985 nach Clacton-on-Sea.
Am 5. August 1990 stirbt Ivan Blatný im Colchester General Hospital.
Nicholas Moore erhielt nie wieder Post von Ivan Blatný. Er stirbt am 26. Januar 1986 in einem Londoner Krankenhaus.
Namensglossar
Aufgeführt sind hier nur jene Personen, deren Bedeutung für Blatný bzw. Moore sich nicht aus den Briefen selbst erschließt.
Brief von Ivan Blatný an Nicholas Moore vom 10. Dezember 1962
Blatný erwähnt in diesem Brief einen gewissen »Doktor Martin«. Gemeint ist damit der Psychiater Dr. Dennis Martin. Er war 1955 ins Claybury Hospital gekommen und hatte dort das Konzept der »therapeutic community« eingeführt, bei dem der Psychiater seine traditionell paternalistische Rolle als Arzt aufgibt und die Patienten sowie das gesamte Personal einer Klinik unmittelbar in den Therapieprozess mit integriert. Ob das Briefeschreiben ein genereller Bestandteil der neuen Therapieform war, ist nicht überliefert, doch steht nach Durchsicht der vorliegenden Dokumente fest, dass Martin Blatnýs Briefwechsel mit Moore überhaupt erst initiiert und Blatný wiederholt zum Schreiben animiert hat. Blatný hat später das Gedicht »Dr. Martins Haus« nach ihm benannt.
Brief von Nicholas Moore an Ivan Blatný vom 30. Dezember 1962
Nicholas Moore erinnert sich hier an einen Mann namens Douglas Newton, hinter dem sich der Dichter, Herausgeber und spätere Vorsitzende des Department of Primitive Art am New Yorker Metropolitan Museum, Bryan Leslie Douglas Newton (1920-2001), verbirgt. Newton und Moore hatten in den 1940er Jahren in London zusammen die Literaturzeitschrift »Seven« herausgegeben.
Brief von Nicholas Moore an Ivan Blatný vom 30. Dezember 1962
Der in diesem Brief von Moore mehrfach genannte Lippy Lipshitz hieß eigentlich Israel-Isaac Lipshitz (1903-1980) und war einer der bedeutendsten südafrikanischen Bildhauer. Lipshitz, der auch als Maler und Drucker tätig war, nahm u.a. 1950 an der Biennale in Venedig teil. 1978 emigrierte er nach Israel und starb dort zwei Jahre später.
Brief von Nicholas Moore an Ivan Blatný vom 30. Dezember 1962
Hinter der von Moore als »Lady Oppenheimer« bezeichneten Person verbirgt sich die zweite Ehefrau des Diamantengroßhändlers Sir Ernest Oppenheimer. Sie stammte aus einer englischen Adelsfamilie und war die Ehefrau und spätere Witwe von Oppenheimers Neffe Michael, der 1933 bei einem Flugzeugsabsturz ums Leben gekommen war. Ihr ursprünglicher Name war Caroline Harvey. Sie heiratete Ernest Oppenheimer 1935 und starb 1971.
Brief von Ivan Blatný an Nicholas Moore vom 16. März 1963
Bei dem in Blatnýs Brief erwähnten »Jiří« handelt es sich um den tschechischen Dichter Jiří Orten, der ein Jugendfreund Blatnýs war. Er wurde am 30. August 1941, seinem 22. Geburtstag, in Prag von einem deutschen Krankenwagen angefahren und schwer verletzt. Das Allgemeine Krankenhaus im besetzten Prag verweigerte jedoch die Aufnahme. Orten, der eigentlich Ohrenstein hieß und Jude war, wurde daraufhin in ein anderes Krankenhaus gebracht, erlag aber zwei Tage später, am 1. September 1941, seinen Verletzungen.
Brief von Ivan Blatný an Nicholas Moore vom 16. März 1963
Blatný spricht in diesem Brief vom Grab eines gewissen Pustvik auf dem Friedhof in Komárov. Der Ortsname Komárov ist in Tschechien und der Slowakei über ein Dutzend Mal bezeugt. Da Blatný aber aus Brno stammt, spricht einiges dafür, dass es sich bei dem hier erwähnten Komárov um den gleichnamigen Ortsteil von Brno handelt. Wer sich dagegen hinter dem Namen Pustvik verbirgt, konnte bislang nicht ermittelt werden. Möglicherweise handelt es sich hier um einen Schreibfehler Blatnýs, obgleich auch eine fehlerhafte Erinnerung nicht auszuschließen ist.
Brief von Nicholas Moore an Ivan Blatný vom 26. April 1963
Erwähnt wird hier der griechische Popularphilosoph und Biograf Plutarch von Chaironeia (um 45 – 125 n. Chr.), der ab dem Jahr 96 n. Chr. die sogenannten Parallelbiografien verfasste, in denen er jeweils einen bedeutenden griechischen Feldherren bzw. Staatsmann mit einem solchen der Römer verglich.